Hat der stationäre Handel noch eine Zukunft?

Hat der stationäre Handel noch eine Zukunft?

In der schleswig-holsteinischen Stadt Wedel zeichnet sich ein Bild ab, das für viele deutsche Innenstädte symptomatisch geworden ist, denn der große und lange etablierte Euronics XXL Elektrofachmarkt schließt Ende Februar für immer seine Pforten, nachdem ein großangelegter Räumungsverkauf die letzten Waren an die Kunden gebracht hat. Diese schwere Entscheidung, die der Geschäftsführer Stefan Kühn nach reiflicher Überlegung traf, betrifft nicht nur die 27 angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern sendet auch ein alarmierendes Signal über den prekären Zustand des gesamten stationären Einzelhandels in Deutschland aus. Kühn begründet den unumgänglichen Schritt mit einer fundamental mangelnden Rentabilität, die aus einem toxischen Zusammenspiel mehrerer negativer Faktoren resultiert. Auf der einen Seite steht der ruinöse und unerbittliche Preiswettbewerb im Elektronikhandel, der die ohnehin schon schmalen Gewinnmargen auf ein nicht mehr tragbares Minimum schrumpfen lässt. Auf der anderen Seite explodieren die laufenden Betriebskosten, insbesondere für Energie, während immer neue bürokratische Hürden den Geschäftsalltag zusätzlich erschweren und Ressourcen binden. Die übermächtige Konkurrenz durch den Online-Handel wird von ihm als „dramatisch“ beschrieben, ein ungleicher Kampf, bei dem physische Geschäfte mit ihren hohen Fixkosten für Miete, Personal und Lagerhaltung kaum noch mithalten können. Die Schließung war somit kein plötzliches Scheitern, sondern eine bewusste unternehmerische Entscheidung, die „Reißleine zu ziehen“, bevor eine unausweichliche Insolvenz das Unternehmen in den Abgrund gerissen und die Zukunft der Belegschaft gefährdet hätte.

Die Lokale Perspektive als Spiegelbild Eines Nationalen Problems

Ein Harter Schnitt zur Vermeidung der Insolvenz

Die Entscheidung des Geschäftsführers, den Elektrofachmarkt in Wedel zu schließen, illustriert die Zwangslage, in der sich viele mittelständische Händler befinden. Der Kern des Problems liegt in einem Marktumfeld, das von einem aggressiven Preiswettbewerb geprägt ist, bei dem Online-Anbieter oft mit minimalen Margen operieren können. Für ein stationäres Geschäft mit hohen Fixkosten für Miete, Personal, Energie und Lagerhaltung ist es nahezu unmöglich, bei diesem Preiskampf mitzuhalten, ohne die eigene Existenzgrundlage zu gefährden. Hinzu kommen stetig steigende Betriebskosten, die den finanziellen Druck weiter erhöhen. Die Energiekosten sind zu einem schwer kalkulierbaren Faktor geworden, der die Bilanzen stark belastet. Gleichzeitig sehen sich Unternehmer mit einem wachsenden Berg an bürokratischen Auflagen konfrontiert, die nicht nur Zeit und Nerven kosten, sondern auch finanzielle Ressourcen binden, die an anderer Stelle, etwa für Investitionen in die Digitalisierung oder das Kundenerlebnis, dringend benötigt würden. In dieser Konstellation wird der unternehmerische Spielraum immer enger, bis die Rentabilitätsschwelle unterschritten wird und eine Fortführung des Geschäftsbetriebs wirtschaftlich nicht mehr vertretbar ist.

Die Schließung in Wedel ist jedoch nicht nur eine Geschichte des Scheiterns, sondern auch ein Beispiel für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln in der Krise. Anstatt abzuwarten, bis die Zahlungsunfähigkeit unausweichlich wird und ein Insolvenzverfahren die Kontrolle aus der Hand nimmt, wurde proaktiv eine Lösung gesucht. Dieser bewusste Entschluss, den Betrieb geordnet herunterzufahren, ermöglichte es, die Konsequenzen für alle Beteiligten so gering wie möglich zu halten. Ein entscheidender Faktor war dabei das Entgegenkommen des Vermieters, der einer vorzeitigen Auflösung des Mietvertrags zustimmte und damit den Weg für eine saubere Abwicklung ebnete. Dieses Detail zeigt, dass auch Immobilieneigentümer die prekäre Lage des Einzelhandels erkennen und an kooperativen Lösungen interessiert sind. Besonders erfreulich ist die Tatsache, dass für die meisten der 27 betroffenen Mitarbeiter bereits neue Arbeitsplätze gefunden werden konnten. Dies mildert nicht nur die sozialen Folgen der Schließung, sondern unterstreicht auch den Wert von gut ausgebildeten Fachkräften, die auf dem Arbeitsmarkt weiterhin gefragt sind, selbst wenn ihr bisheriger Arbeitgeber den Betrieb einstellen muss.

Der Wettbewerbsdruck aus dem Netz

Die vom Geschäftsführer als „dramatisch“ beschriebene Konkurrenz aus dem Internet ist der wohl entscheidendste Faktor, der dem stationären Handel zu schaffen macht. Es handelt sich hierbei um eine fundamentale Verschiebung der Marktstrukturen, die weit über den reinen Preiswettbewerb hinausgeht. Online-Händler profitieren von Skaleneffekten, einer schlankeren Kostenstruktur ohne teure Ladenflächen in 1A-Lagen und der Möglichkeit, Kunden rund um die Uhr und überregional zu erreichen. Für die Konsumenten bedeutet dies eine beispiellose Transparenz und eine riesige Auswahl, die ein einzelnes Ladengeschäft niemals bieten könnte. Doch dieser Wandel wird durch eine neue Welle von E-Commerce-Plattformen nochmals beschleunigt. Insbesondere schnell wachsende und extrem preisaggressive Anbieter aus Asien, wie Temu, Shein und AliExpress, fluten den europäischen Markt mit Produkten zu Preisen, die für heimische Händler unerreichbar scheinen. Ihr Geschäftsmodell basiert oft auf einer direkten Verbindung zwischen Hersteller und Endkunde, wodurch mehrere Stufen der traditionellen Lieferkette und die damit verbundenen Margen umgangen werden, was den Druck auf den etablierten Handel massiv erhöht.

Die Auswirkungen dieser neuen Wettbewerber sind bereits deutlich spürbar und lassen sich konkret beziffern. Eine Erhebung von YouGov zeigt, dass bereits ein signifikanter Anteil der deutschen Verbraucher diese Plattformen für ihre Einkäufe nutzt, selbst für Anlässe wie das Weihnachtsgeschäft, das für den Einzelhandel traditionell die umsatzstärkste Zeit des Jahres ist. Diese Entwicklung untergräbt nicht nur die Umsätze, sondern verändert auch die Erwartungshaltung der Kunden in Bezug auf Preise nachhaltig. Wenn Produkte zu einem Bruchteil des üblichen Marktpreises angeboten werden, sinkt die Bereitschaft, im stationären Handel einen höheren Preis für Beratung, Service und sofortige Verfügbarkeit zu zahlen. Der Handelsverband Deutschland (HDE) schlägt Alarm und prognostiziert allein für das letzte Weihnachtsgeschäft einen potenziellen Umsatzverlust von bis zu einer Milliarde Euro für den inländischen Handel durch diese neuen Akteure. Diese Summe verdeutlicht die Dimension der Herausforderung und zeigt, dass es sich nicht um ein Randphänomen, sondern um eine tiefgreifende strukturelle Bedrohung für die gesamte Branche handelt.

Die Makroökonomischen Auswirkungen und die Reaktion der Branche

Quantifizierung des Schadens für den Deutschen Handel

Der prognostizierte Umsatzverlust von einer Milliarde Euro allein im Weihnachtsgeschäft ist mehr als nur eine statistische Kennzahl; er repräsentiert eine reale Gefahr für die Stabilität des deutschen Einzelhandelssektors und die damit verbundenen Arbeitsplätze. Jeder Euro, der an internationale Plattformen abfließt, ist ein Euro, der nicht in die lokale Wirtschaft investiert wird. Dies hat weitreichende Konsequenzen: Es fehlen Steuereinnahmen für Kommunen, die für die Finanzierung öffentlicher Infrastruktur wie Schulen, Straßen und Parks unerlässlich sind. Gleichzeitig geraten die Arbeitsplätze im Einzelhandel, einem der größten Arbeitgeber des Landes, unter Druck. Wenn Geschäfte schließen müssen, verlieren nicht nur Verkäuferinnen und Verkäufer ihren Job, sondern auch Angestellte in der Logistik, im Marketing und in der Verwaltung. Darüber hinaus führt das Ladensterben zu einer Verödung der Innenstädte. Wo einst belebte Einkaufsstraßen zum Flanieren einluden, entstehen Leerstände, die die Attraktivität der Stadtzentren mindern und eine negative Spirale auslösen können, die auch Gastronomie und Kultur in Mitleidenschaft zieht.

Diese besorgniserregende Entwicklung spiegelt sich unweigerlich in der Insolvenzstatistik wider. Laut einer Analyse von Allianz Trade hat die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Einzelhandel einen besorgniserregenden Höchststand erreicht, den höchsten seit dem Jahr 2016. Dieser Anstieg ist ein klares Indiz dafür, dass die Belastungen für viele Händler schlicht zu groß geworden sind. Die Kombination aus sinkenden Margen durch den Online-Wettbewerb, explodierenden Betriebskosten und einer oft als zögerlich empfundenen Konsumlaune der Verbraucher bildet eine toxische Mischung, der viele Unternehmen nicht mehr gewachsen sind. Die Schließung des Euronics-Marktes in Wedel ist somit kein Einzelfall, sondern Teil einer landesweiten Welle von Geschäftsaufgaben. Es handelt sich um ein systemisches Problem, das die Widerstandsfähigkeit der gesamten Branche auf eine harte Probe stellt und aufzeigt, dass ohne tiefgreifende strukturelle Anpassungen und neue Geschäftsmodelle eine weitere Zunahme von Insolvenzen kaum zu vermeiden sein wird. Der Druck auf die Politik und die Wirtschaftsverbände, tragfähige Rahmenbedingungen zu schaffen, wächst damit zusehends.

Strategische Neuausrichtung als Überlebensimperativ

Die Krise des stationären Einzelhandels offenbarte schonungslos die Notwendigkeit einer fundamentalen Neuausrichtung. Es wurde deutlich, dass ein Festhalten an traditionellen Geschäftsmodellen in einer digitalisierten Welt nicht mehr zukunftsfähig war. Das Überleben hing entscheidend davon ab, ob es den Händlern gelang, sich von reinen Warenverteilern zu Orten des Erlebens und der Gemeinschaft zu wandeln. Die erfolgreichen Konzepte waren jene, die den physischen Raum nutzten, um einen Mehrwert zu schaffen, den der Online-Handel nicht bieten konnte. Dazu zählten exzellente, persönliche Beratung durch Fachpersonal, die Möglichkeit, Produkte haptisch zu erfahren und auszuprobieren, sowie die Schaffung einer inspirierenden Einkaufsatmosphäre. Die Integration von Dienstleistungen, Reparatur-Services oder kleinen gastronomischen Angeboten erwies sich ebenfalls als ein Weg, die Verweildauer und die Kundenbindung zu erhöhen. Die zentrale Lektion war, dass der Laden vor Ort nicht mehr nur ein Transaktionspunkt sein durfte, sondern ein sozialer Treffpunkt und eine Erlebniswelt werden musste, um im Bewusstsein der Konsumenten relevant zu bleiben.

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