Was Bedroht die Seehunde Trotz Baby-Boom?

Die jüngsten Zählungen der Seehundpopulation im Wattenmeer offenbaren ein zutiefst paradoxes Bild, das Experten vor ein Rätsel stellt und Anlass zu ernster Sorge gibt. Während eine Rekordzahl an Jungtieren auf den Sandbänken einen scheinbar gesunden Bestand signalisiert, zeigt die langfristige Entwicklung der erwachsenen Tiere in eine alarmierend entgegengesetzte Richtung. Diese Diskrepanz zwischen einem beispiellosen Baby-Boom und einem über das letzte Jahrzehnt schrumpfenden Gesamtbestand wirft drängende Fragen nach den wahren Überlebensbedingungen der Meeressäuger auf. Eine detaillierte Analyse der von einer trilateralen Expertengruppe aus Dänemark, Deutschland und den Niederlanden erhobenen Daten für das Jahr 2025 zeichnet ein komplexes Szenario, in dem menschliche Einflüsse und noch ungeklärte natürliche Phänomene eine entscheidende Rolle spielen. Die Zukunft der Seehunde im Wattenmeer hängt maßgeblich davon ab, ob es gelingt, die Ursachen hinter diesen widersprüchlichen Signalen zu entschlüsseln und wirksame Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

Ein Rätselhafter Trend im Wattenmeer

Die im August 2025 durchgeführten Zählungen belegen die komplexe Lage mit eindrücklichen Zahlen und deuten auf eine möglicherweise trügerische Stabilität hin. Mit einer Gesamtzahl von 23.954 erfassten Seehunden wurde zwar ein leichter Anstieg von einem Prozent gegenüber dem Vorjahr verzeichnet, doch dieser Wert liegt weiterhin signifikant unter dem Durchschnitt der Jahre 2012 bis 2021. Diese Entwicklung könnte auf eine Konsolidierung des Bestandes auf einem niedrigeren Niveau hindeuten. Die Situation stellt sich regional jedoch sehr uneinheitlich dar: Während die Populationen in Dänemark und Schleswig-Holstein rückläufig waren, konnten in Niedersachsen, Hamburg und den Niederlanden Zuwächse beobachtet werden. In scharfem Kontrast zu diesem gemischten Bild der Gesamtpopulation steht die Entwicklung bei den Jungtieren. Mit 10.044 gezählten Welpen wurde nicht nur ein bemerkenswerter Anstieg von 22 Prozent im Vergleich zu 2024 registriert, sondern auch die zweithöchste absolute Zahl seit Beginn der systematischen Erhebungen überhaupt. Dieser Nachwuchsboom steht im Widerspruch zum langfristig sinkenden Gesamtbestand und stellt die Wissenschaft vor große Herausforderungen.

Angesichts dieser widersprüchlichen Datenlage herrscht unter den Forschern ein Konsens darüber, dass die genauen Ursachen für dieses Phänomen noch nicht eindeutig geklärt sind. Aktuell werden zwei zentrale Hypothesen intensiv diskutiert, um die Lücke zwischen der hohen Geburtenrate und dem stagnierenden Erwachsenenbestand zu erklären. Die erste These, die maßgeblich vom Hauptautor des Berichts, Anders Galatius, vertreten wird, postuliert einen biologischen Mechanismus. Demnach könnte ein höherer Anteil an tragenden Weibchen in der Population für den Geburtenboom verantwortlich sein, der jedoch durch eine gleichzeitig stark erhöhte Sterblichkeitsrate bei den Jungtieren wieder ausgeglichen wird. Dies würde bedeuten, dass trotz der vielen Geburten nur wenige Seehunde das fortpflanzungsfähige Alter erreichen. Eine alternative, verhaltensbasierte Erklärung geht davon aus, dass sich die erwachsenen Tiere während des Fellwechsels, dem Zeitraum der Zählungen, anders verhalten als früher. Es ist denkbar, dass sich weniger Seehunde auf den Sandbänken aufhalten und somit der Erfassung durch die Zählflüge entgehen. Beide Annahmen sind bislang unbewiesen und erfordern dringend weiterführende wissenschaftliche Untersuchungen, um die wahren Treiber der Populationsdynamik zu verstehen.

Menschliche Störungen als Wachsende Gefahr

Unabhängig von den ungeklärten biologischen Fragen identifizieren Experten eine zunehmend kritische Bedrohung für die Seehunde: massive Störungen durch menschliche Aktivitäten, insbesondere durch den unkontrollierten Tourismus. Die Zeit von Juni bis September ist für die Tiere von existenzieller Bedeutung, da in diesen Monaten die Geburten und die Aufzucht der Jungen stattfinden. In dieser sensiblen Phase benötigen die Muttertiere und ihre Welpen absolute Ruhe auf den Sandbänken, um die überlebenswichtige Bindung aufzubauen und die Jungen zu säugen. Doch genau in dieser Zeit erreicht der Tourismus im Wattenmeer seinen Höhepunkt. Aktivitäten wie unachtsame Wattwanderungen, sich zu nah annähernde Sportboote oder Kitesurfer lösen bei den Tieren erheblichen Stress und Fluchtreaktionen aus. Diese Störungen werden von Fachleuten als die häufigste Ursache für die dauerhafte Trennung von Mutter und Jungtier angesehen. Die durch die panische Flucht ins Wasser verbrauchte Energie fehlt den geschwächten Jungtieren, was ihre Überlebenschancen drastisch reduziert und den Fortbestand der Population unmittelbar gefährdet.

Die Folgen dieser menschlich verursachten Störungen sind für die Seehundwelpen oft fatal und führen zu einem qualvollen Tod. Wird eine säugende Mutter aufgeschreckt und flieht, kann dies dazu führen, dass das Jungtier nicht ausreichend mit nahrhafter Muttermilch versorgt wird. Die Konsequenzen sind Untergewicht, eine geschwächte Konstitution und im schlimmsten Fall der Tod durch Verhungern oder Erfrieren. Doch die Gefahr geht noch weiter. Bei neugeborenen Robben, deren Nabelschnur noch nicht verheilt ist, birgt die Flucht über den rauen Sand zusätzliche, tödliche Risiken. Die Reibung kann zu schweren Wunden, schmerzhaften Nabeldurchbrüchen oder zu einer Bauchfellentzündung (Peritonitis) führen, die fast immer tödlich endet. Jede Störung stellt somit eine direkte Lebensbedrohung dar und konterkariert den positiven Effekt der hohen Geburtenrate. Der Schutz der Ruhezonen und die Aufklärung der Öffentlichkeit sind daher entscheidende Maßnahmen, um das Überleben des Nachwuchses zu sichern und dem negativen Populationstrend entgegenzuwirken.

Internationale Zusammenarbeit und Zukünftige Herausforderungen

Die Untersuchung der Seehundpopulation im Wattenmeer hatte ein komplexes und teilweise besorgniserregendes Bild gezeichnet. Die im Jahr 2025 erhobenen Daten bestätigten eine widersprüchliche Entwicklung, die durch einen Rekord an Jungtieren bei gleichzeitig langfristig sinkenden Bestandszahlen gekennzeichnet war. Als zentrale Bedrohung wurden menschliche Störungen identifiziert, die vor allem während der sensiblen Aufzuchtphase fatale Folgen für den Nachwuchs hatten. Rechtlich bildete das UN-Übereinkommen zur Erhaltung wandernder wild lebender Tierarten den Rahmen für den trilateralen Schutz der Seehunde. Die koordinierten Zählungen und die gemeinsame Analyse der dänischen, deutschen und niederländischen Expertengruppe stellten dabei ein wesentliches Instrument des internationalen Überwachungsprogramms dar. Diese Zusammenarbeit war die Grundlage, um die komplexen Zusammenhänge zu verstehen und fundierte Schutzstrategien für die Zukunft dieser symbolträchtigen Art im Wattenmeer zu entwickeln.

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