BGH erklärt Klauseln zum Rentenfaktor für unwirksam

Die private Altersvorsorge, einst als verlässlicher Pfeiler für einen sorgenfreien Ruhestand beworben, hat für Hunderttausende Sparer in Deutschland einen Vertrauensbruch erlitten, als Versicherer begannen, die versprochenen Renten einseitig zu kürzen. Eine bahnbrechende Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 10. Dezember 2025 setzt dieser Praxis nun ein Ende und erklärt die zugrunde liegenden Klauseln zum Rentenfaktor in fondsgebundenen Rentenversicherungen für unwirksam. Dieses Urteil hat weitreichende finanzielle und rechtliche Konsequenzen, die nicht nur einzelne Verträge betreffen, sondern die Grundfesten der Beziehung zwischen Versicherungsunternehmen und ihren Kunden neu definieren und eine Welle von Neuberechnungen und Nachforderungen auslösen dürften.

Das Urteil und seine Grundlagen

Die Einseitige Benachteiligung der Versicherten

Das zentrale Problem, das der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung adressierte, wurzelt in der unausgewogenen Gestaltung der Vertragsklauseln zum sogenannten Rentenfaktor, welcher die Höhe der monatlichen Auszahlung pro 10.000 Euro angespartem Kapital bei Renteneintritt festlegt. Die für rechtswidrig befundene Praxis gestattete es den Versicherungsgesellschaften, diesen entscheidenden Faktor unter bestimmten, oft vage formulierten Bedingungen einseitig zu Ungunsten der Kunden zu senken. Als Gründe wurden typischerweise eine gestiegene Lebenserwartung oder sinkende Renditen an den Kapitalmärkten angeführt. Damit verlagerten die Unternehmen demografische und wirtschaftliche Risiken vollständig auf die Schultern ihrer Versicherten. Entscheidend war jedoch, dass die Klauseln keine spiegelbildliche Verpflichtung vorsahen, den Rentenfaktor bei einer positiven Entwicklung – etwa einer unerwartet sinkenden Lebenserwartung oder steigenden Kapitalmarktzinsen – wieder anzuheben. Diese einseitige Risikoverteilung schuf ein gravierendes Ungleichgewicht, das die Verbraucher in einer für sie unzumutbaren Weise benachteiligte und das ursprüngliche Versprechen einer verlässlichen Altersvorsorge untergrub.

Die Juristische Begründung des Bundesgerichtshofs

In seinem Urteil gegen die Allianz Lebensversicherungs-AG (Aktenzeichen IV ZR 34/25), das auf eine Klage der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg zurückgeht, zog der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs eine klare rechtliche Grenze. Die Richter stellten fest, dass die beanstandete Klausel fundamental gegen das Symmetriegebot verstößt, einem wesentlichen Grundsatz des deutschen Vertragsrechts. Dieses Gebot besagt, dass wenn einem Vertragspartner das Recht eingeräumt wird, die Vertragsbedingungen bei negativen Entwicklungen zu seinen Gunsten anzupassen, dem anderen Vertragspartner ein spiegelbildliches Recht bei positiven Entwicklungen zustehen muss. Die strittige Klausel der Allianz erlaubte eine Kürzung der Rente, wenn die Lebenserwartung stärker als erwartet stieg oder die Kapitalanlagen nicht nur vorübergehend sanken. Da jedoch ein Mechanismus fehlte, der die Versicherten an einer unerwartet positiven Entwicklung durch eine Erhöhung des Rentenfaktors hätte partizipieren lassen, sah das Gericht hierin eine unangemessene Benachteiligung der Verbraucher. Diese juristische Asymmetrie führte konsequenterweise zur vollständigen Unwirksamkeit der gesamten Klausel.

Konsequenzen für Sparer und die Versicherungsbranche

Finanzielle Dimension und Rechte der Verbraucher

Die praktischen Auswirkungen des BGH-Urteils sind für eine große Zahl an Sparern von immenser Bedeutung, da Schätzungen von Verbraucherzentralen von einer hohen sechs- oder sogar siebenstelligen Anzahl betroffener Verträge ausgehen. Die finanziellen Einbußen, die durch die nun für unzulässig erklärten Klauseln entstanden, waren erheblich. So wurde beispielsweise bei der Allianz Lebensversicherung der garantierte Rentenfaktor von ursprünglich 38,74 Euro je 10.000 Euro Policenwert auf 30,84 Euro reduziert, was einer Kürzung der zugesagten Rente um rund 20,4 Prozent entspricht. Bei der Zurich Versicherung fiel die Minderung mit einer Senkung von 37,34 Euro auf 27,97 Euro, also um etwa 25,1 Prozent, noch drastischer aus. Für betroffene Ruheständler und zukünftige Rentner bedeutet das Urteil, dass diese Kürzungen rechtlich unzulässig waren. Sie haben nun einen durchsetzbaren Anspruch auf eine Neuberechnung ihrer Rente, die sich am ursprünglich bei Vertragsabschluss garantierten, höheren Faktor orientieren muss. Zusätzlich können sie Nachzahlungen für bereits zu niedrig ausgezahlte Rentenbeträge fordern, um ihre finanziellen Verluste auszugleichen.

Ein Systemweites Problem der Branche

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs gegen die Allianz stellt keinen isolierten Einzelfall dar, sondern legt ein systemweites Problem innerhalb der deutschen Versicherungsbranche offen. Eine Vielzahl von Versicherern hat in der Vergangenheit ähnliche, unausgewogene Klauseln in ihren Vertragsbedingungen verwendet. Dies betrifft ein breites Spektrum an Altersvorsorgeprodukten, von privaten fondsgebundenen Rentenversicherungen über staatlich geförderte Riester- und Rürup-Renten bis hin zu Verträgen der betrieblichen Altersvorsorge. Weitere Gerichtsverfahren untermauern diesen Trend und zeigen die branchenweite Relevanz des Themas. So hat das Landgericht Köln eine vergleichbare Klausel der Zurich Deutscher Herold ebenfalls für unwirksam erklärt; ein Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Köln wird für das Frühjahr 2026 erwartet. Bemerkenswert ist dabei, dass die Zurich-Klausel sogar detaillierter formuliert war und zusätzliche Schutzmechanismen wie die Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders vorsah. Dennoch befand das Gericht auch diese Regelung als rechtswidrig, da das grundlegende Problem der fehlenden Symmetrie nicht behoben wurde. Weitere Klagen, etwa der Verbraucherzentrale NRW gegen die AXA und die LPV, sind bereits anhängig.

Ein Paradigmenwechsel für die Altersvorsorge

Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. Dezember 2025 markierte einen Wendepunkt im Verbraucherschutz im Bereich der privaten Altersvorsorge. Es beendete eine langjährige und unfaire Praxis, bei der Versicherungsunternehmen systematisch Risiken einseitig auf die Schultern ihrer Kunden abgeladen hatten, ohne diese im Gegenzug an positiven Entwicklungen teilhaben zu lassen. Für Hunderttausende, wenn nicht Millionen, Versicherte in Deutschland eröffnete die Entscheidung die Möglichkeit, eine Neuberechnung ihrer Rente zu verlangen und die erlittenen finanziellen Verluste auszugleichen. Die Rechtsposition der Verbraucher wurde damit erheblich gestärkt. Gleichzeitig zwang das Urteil die gesamte Versicherungsbranche dazu, ihre Vertragspraktiken transparenter und fairer im Sinne des Symmetriegebots zu gestalten. Die juristische Aufarbeitung dieses Themas und die anhängigen Verfahren gegen weitere Versicherer deuteten darauf hin, dass die Konsequenzen die Branche nachhaltig prägen und zu neuen Standards bei der Vertragsgestaltung führen würden.

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